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Beitrag vom 16.10.2020
AVIVA-Interview- + Fotoprojekt JETZT ERST RECHT: Jessica
Jessica Jacoby, Sharon Adler
Um die Gedanken und Erfahrungen, Perspektiven und Forderungen jüdischer Menschen zu Antisemitismus in Deutschland sichtbar zu machen und ihnen abseits der Statistiken ein Gesicht und eine Stimme zu geben, hat die jüdische Fotografin und Journalistin, Herausgeberin von AVIVA-Berlin, Sharon Adler das Projekt "JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS!" initiiert, das von der Amadeu Antonio Stiftung gefördert wird. Eine der Teilnehmer*innen ist die Filmjournalistin, Dokumentarfilmautorin, und Herausgeberin des Buchs "Nach der Shoa geboren. Jüdische Frauen in Deutschland", Jessica Jacoby. Ihr Slogan lautet: JETZT ERST RECHT. STOP ANTISEMITISMUS. "Die verlogene Solidarität"
"Du Jude", Hassmails, Rechte Hetze im Rap oder faschistoide Verschwörungsideologien in der Corona-Pandemie. Angriffe auf Jüdinnen und Juden sind in Deutschland an der Tagesordnung. Die traurigen Höhepunkte: Das Attentat in Halle an Yom Kippur 2019, das Attentat vor der Synagoge in Hamburg 2020.
AVIVA: Thema Antisemitismus in Deutschland heute: Der am 06.05.2020 veröffentlichte Jahresbericht 2019 des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS) e.V. dokumentiert 1.253 antisemitische Vorfälle in vier Bundesländern. Antisemitismus kommt in unterschiedlichsten Formen und in allen gesellschaftlichen Schichten vor. Kannst Du in dem aktuellen Kontext bitte einmal genauer erläutern, was Du mit Deinem Statement "Die verlogene Solidarität" auf unserem Demo-Plakat meinst, und welche Message Du damit transportieren willst?
Jessica Jacoby: Von Gewalt einmal abgesehen, die ja nur die Spitze des Eisberges darstellt, will ja niemand als Antisemit_in gelten. Unterhalb dieser Schwelle meine ich die Duldung von Antisemitismus, die verweigerte Hilfeleistung, die dem Opfer zumindest eine Mitschuld zuweist, die Bedrohung verharmlost. Die vermeintlichen Freunde sind nicht weniger gefährlich als die erklärten Judenfeinde, da sie sich mit ihnen gemein machen. Davon habe ich reichlich erlebt, besonders im beruflichen Kontext. Hier einige Beispiele: Ob es die Absage einer Antisemitismusausstellung in den Anfängen des jüdischen Museums Berlin war, die ich mit einem Team vorbereitet hatte, weil Antisemitismus doch kein Thema für ein jüdisches Museum sei, oder meine Arbeit in einem senatsgeförderten Frauenprojekt: Das Thema Antisemitismus durfte es nicht geben. Ich führte mit zwei externen Kolleginnen Workshops zur Erkennung und Abwehr antisemitischen Denkens und Redens durch und geriet bei einem Teil meiner migrantischen Mitreferentinnen in die Schusslinie. Es ginge doch im Projekt um die Abwehr von Rassismus, und mein Insistieren auf ein Sonderthema zeige deutlich meine zionistische, d.h. rassistische Gesinnung. Begeisterte Zustimmung durch ihre studentischen Claqueurinnen, die zumeist der weißen, deutschen und definitiv nichtjüdischen Mehrheit angehörten, war ihnen gewiss. Diese Zuschreibungen schmerzten umso mehr, als ich von Frauen, die selbst Ausgrenzungen erlebten, Solidarität erwartet hatte.
Verarbeitet habe ich diese Erfahrungen in meinem Theaterstück: DIE METAMORPHOSE DER FLEDERMÄUSE und in meinem Aufsatz: DER ANTISEMITISMUS DER GESCHLECHTER, den die Herausgeberinnen nur mit einem sich distanzierenden Vorwort veröffentlicht haben.
AVIVA: Du hast in der Vergangenheit häufig als Zeitzeugin bei Veranstaltungen vor und mit Kindern und Jugendlichen gesprochen. Welche Maßnahmen in der Jugend- oder Erwachsenenbildung wären Deiner Meinung nach wichtig für eine wirksame Bildungsarbeit gegen Antisemitismus und in der Vermittlung der Shoah? Welchen Auftrag siehst Du in der Arbeit der Bildungsinstitutionen? Was kann nachhaltig wirken und wo siehst Du mehr Bedarf?
Jessica Jacoby: Mein erklärter Favorit ist die Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf. Dort wird hervorragende Bildungsarbeit geleistet. Ich war im November 2018 dort zu Gast und habe mit Schüler_innen unterschiedlichen Alters gesprochen. Ich war sehr beeindruckt von der Reife und dem Engagement der Kinder und jungen Menschen. So etwas Herzerfrischendes fällt ja nicht vom Himmel, sondern ist das Ergebnis jahrelanger pädagogischer Arbeit mit und an den Schulen. Vorbildlich! Ich habe übrigens meinen Kurzfilm auch an einem Berliner Gymnasium gezeigt und dort ebenso viel Interesse und Aufgeschlossenheit erlebt. Ich wünsche mir mehr davon und dass mehr Mittel in die Antisemitismusprävention investiert werden. Auf der anderen Seite braucht es konsequente Strafverfolgung, egal von welcher Seite Antisemitismus kommt, sowie Unterstützung von denen, die damit konfrontiert werden.
AVIVA: In Deinem Dokumentarfilm "Roads. Zwischen Düsseldorf und New Orleans" gehst Du anhand von Archivmaterial wie Briefen, Dokumenten und Photos, und neu aufgenommenen Filmaufnahmen auf eine filmische Recherchereise. In dem Film erinnerst Du an Deinen Vater Klaus (Claude) Jacoby, der in die USA flüchten konnte, und an Deine Großeltern Arthur und Ella Jacoby, die von Düsseldorf ins Vernichtungslager Maly Trostinez bei Minsk deportiert und dort ermordet worden. Eine Kurzfassung hast Du auf einer Gedenkveranstaltung des Landtags in Düsseldorf zeigen können. Wie waren die Reaktionen?
Jessica Jacoby: Sehr positiv bis überwältigend. Auch meine Partnerin und meine beiden Cousins aus England bzw. Südafrika wurden eingeladen. So waren wir präsent als ganze Familie, wir Lebende mit unseren Toten und wurden gemeinsam geehrt. Es gab auch danach viele gute Gespräche. Ein unvergessliches Erlebnis und eine großartige Genugtuung.
AVIVA: Von 1984 bis 1989 hast Du Dich zusammen mit anderen Frauen im von Dir ins Leben gerufenen lesbisch-feministischen politischen "Schabbeskreis" für die Präsenz und Wahrnehmung jüdischer Frauen in der neuen Frauenbewegung eingesetzt. In welchen Formen ist euch Antisemitismus in feministischen Zusammenhängen begegnet, wie seid ihr damit umgegangen?
Jessica Jacoby: Im Wesentlichen bestand unsere Arbeit in der Tat darin, jüdische Frauen und ihr Wirken sichtbar zu machen, aber eben auch die Teilhabe nichtjüdischer Frauen in Geschichte und Gegenwart an Antisemitismus bis hin zur Shoah aufzuspüren und öffentlich zu machen. Außerdem wollten wir der Vorstellung, Juden hätten das Patriarchat erfunden, entgegentreten. Natürlich haben wir uns damit meist keine Freundinnen erworben. Wer hört schon gern das Scheppern, wenn die eigenen weiblichen Idole vom Sockel gestoßen werden? Überraschend war das nicht. Wir – Gotlinde Magriba Lwanga und ich - haben damals einen Artikel veröffentlicht: WAS "SIE" SCHON IMMER ÜBER ANTISEMITISMUS WISSEN WOLLTE, ABER NICHT ZU DENKEN WAGTE". Der hat für viele Kontroversen gesorgt.
Mein Motto war und ist das, was in England während des ´Blitz` (d.h. dem Bombardement durch die deutsche Luftwaffe) ausgegeben wurde: Keep calm and carry on.
AVIVA: Wo vermisst Du Unterstützung bei offenem oder verstecktem Antisemitismus, wo wünschst Du Dir mehr Support, Empathie, Solidarität in der Zukunft? (von Seiten der Zivilgesellschaft, im nicht-jüdischen Freund_innenkreis, etc.)?
Jessica Jacoby: Von Seiten meiner nichtjüdischen Freund_innen vermisse ich nichts. Das macht mich glücklich.
Ich bin ja Rentnerin und lebe sehr zurückgezogen. Deshalb begegnet mir in meinem persönlichen Alltag praktisch kein Antisemitismus. Das heißt aber nicht, dass ich ihn, wenn er andere trifft, nicht wahrnehmen, oder dass ich keinen dringenden Handlungsbedarf sehen würde. Da bin ich immer noch äußerst wachsam. Ich recherchiere gerade einen solchen Fall unterlassener Hilfeleistung nach einem antisemitischen Angriff. Es reicht nicht, die vollmundig beschworene Solidarität (die sich in der Realität dann als verlogen herausstellt) nur zu vermissen, das hieße die Heuchelei hinnehmen. Echte Solidarität muss so massiv wie möglich eingefordert und mit allen Mitteln durchgesetzt werden, gerade bei Institutionen, die sie sich auf die Fahne geschrieben haben.
Jessica Jacoby, geboren am 27.10.1954 in Frankfurt am Main, arbeitete als Historikerin, Filmjournalistin, Dokumentarfilmautorin ("Roads – Roads to Reconnection"), Ausstellungsmacherin in Museen, Bildungsreferentin in Frauenprojekten, Interpretin jiddischer Lieder und Mitherausgeberin des Buchs "Nach der Shoa geboren. Jüdische Frauen in Deutschland" über jüdische Frauen der Post-Shoah-Generation.
1984 gründete Jacoby zusammen mit anderen Frauen den "Schabbeskreis", eine lesbisch-feministische politische Gruppe, die sich bis 1989 aktiv für die Präsenz und Wahrnehmung jüdischer Frauen in der neuen Frauenbewegung und mit Antisemitismus in feministischen Zusammenhängen auseinandersetzte.
Ihr Großvater väterlicherseits war Arthur Jacoby, der mit seiner Ehefrau Ella Jacoby die Reichspogromnacht in Düsseldorf überlebte und 1941 ins Vernichtungslager Maly Trostinez bei Minsk deportiert und dort ermordet wurde. Ihr Großvater mütterlicherseits war der Regisseur Veit Harlan, der mit dem NS-Propagandafilm "Jud Süß" zur Vertreibung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden Europa aufrief. Jacoby hat sich in Vorträgen auch mit den Kontinuitäten der NS Ideologie in seinen angeblich "harmlosen" Nachkriegsfilmen auseinandergesetzt.
Mehr Infos zu Jessica Jacoby unter:
Ein "Oral History-Interview" im FFBIZ-Archiv
www.ffbiz.de
Im Beitrag "Der lesbisch feministische Schabbeskreis – jüdisch-lesbischer Aktivismus in der BRD der 1980er-Jahre" im Digitalen Deutschen Frauenarchiv (DDF)
www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de
Im Beitrag "Jüdinnen in Deutschland nach 1945. Erinnerungen, Brüche, Perspektiven" im Deutschland Archiv der Bundeszentrale für politische Bildung
www.bpb.de
Gedenken zum 80. Jahrestag der Pogromnacht 2018 in Düsseldorf – Veranstaltung (ab Minute 41) und Interview mit Jessica Jacoby
www.landtag.nrw.de und www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv
Publikationen zum Thema von und mit Jessica Jacoby
"Was ´sie´ schon immer über Antisemitismus wissen wollte, aber nie zu denken wagte" mit Gotlinde Magriba Lwanga. In: beiträge zur feministischen theorie und praxis, Heft 27/1990
Ebenfalls in den beiträgen zur feministischen theorie und praxis, Heft 35/1993:
"Die Metamorphosen der Fledermäuse: eine tragische Komödie im antikisierenden Stil"
"Antisemitismus der Geschlechter". In: Differenz und Differenzen: Zur Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremden im Kontext von Macht und Rassismus bei Frauen. Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz (Hrsg.) Bielefeld 1994
JETZT ERST RECHT!
Um die Erfahrungen, Perspektiven und Forderungen von jüdischen Menschen in Deutschland sichtbar zu machen und ihnen abseits der Statistiken ein Gesicht und eine Stimme zu geben, hat die jüdische Fotografin und Journalistin, Herausgeberin von AVIVA-Berlin Sharon Adler ihr neues Projekt JETZT ERST RECHT! initiiert.
Mitmachen
Wenn Du auch Interesse hast, an dem Interview- + Fotoprojekt JETZT ERST RECHT! teilzunehmen, kannst Du Dich per eMail mit Sharon Adler unter sharon@aviva-berlin.de in Verbindung setzen. Bitte sende in dieser eMail Deine Motivation und einige biographische Informationen.
Gefördert wurde das Interview- + Fotoprojekt von der Amadeu Antonio Stiftung.
Copyright: Gestaltet wurde das Signet JETZT ERST RECHT! von der in Israel geborenen Künstlerin Shlomit Lehavi. Alle Rechte vorbehalten. Nutzung ausschließlich nach vorheriger schriftlicher Anfrage und Genehmigung durch AVIVA-Berlin.
Copyright Foto von Jessica Jacoby: Sharon Adler